Das vorliegende Nachwort von Herta Müller zu Der Nazi & der Friseur wurde 2011 verfasst und damals in der chinesischen Ausgabe abgedruckt. Anlässlich des Geburtstags von Herta Müller, die 2009 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wird der deutsche Originaltext erstmals am 17.08.2020 ausschließlich an dieser Stelle veröffentlicht.

In dem kleinen abgelegenen Dorf, aus dem ich komme, war der Friseur eine Instanz. Warum? Ich glaube, weil sein Beruf mit dem Tod zu tun hatte. Er rasierte die Toten, bevor sie in den Sarg gelegt wurden. Aber das war nicht der alleinige Grund. Der Friseur war ein sehr kleiner verkrüppelter Mann mit einem großen Kopf und einem Buckel. Er wohnte nur vier Häuser weiter in unserer Straße. Seine Werkzeuge trug er in einer Ledertasche, die mit einer glänzenden Metallschiene verschlossen war, in der Doktortasche. So ging er von Haus zu Haus. Wenn er kam, wickelte er seine Werkzeuge aus einem samtenen Tuch, legte sie immer in derselben Reihenfolge nebeneinander auf den Tisch und stellte seine Rasierwasserfläschchen im Halbkreis auf. Die blanken Messer, Scheren und Pinzetten glichen den Instrumenten eines Chirurgs, schon das Funkeln des Werkzeugs und das Ritual des Ausbreitens schüchterten ein.

Für mich als Kind trug der bucklige Friseur etwas Übernatürliches als Höcker. Man mußte sich in acht nehmen. Wenn er ins Haus kam, kam nicht ein Nachbar, sondern ein Rätsel. Eine Art Angst, eine Beklommenheit erwischte mich, als hätte er in seiner Doktortasche und in seinem Buckel eine Macht über unser aller Leben. Er frisierte und rasierte nicht nur die Männer, er schnitt manchen alten Leuten auch die Fußnägel, zog Zähne und operierte eiternde Furunkel. Wenn mein Großvater fertig frisiert war, kehrte meine Mutter die abgeschnittenen Haare vom Fußboden zusammen – denn der Friseur nahm sie mit in einem Plastiksäckchen. Deshalb glaubte ich als Kind, daß er zu Hause alle Haare aller Kunden getrennt aufbewahrt, daß er sie wiegt und den genauen Überblick aller Haare aller Männer im Dorf hat. Und daß er entscheidet, wann jemand sterben muß. Ich war überzeugt, wenn der Sack mit den Haaren meines Großvaters so schwer ist wie mein Großvater, dann stirbt der Großvater. 

Auch im Roman Der Nazi & der Friseur von Edgar Hilsenrath hat der Friseur etwas Diabolisches. Es hat mich fasziniert und erschreckt, daß Hilsenrath den SS-Mann und Massenmörder Max Schulz ausgerechnet in die Rolle eines Friseurs schlüpfen läßt. Das Rollenspiel wird auch sprachlich zum doppelten Boden, zum doppelten Gefühl beim Lesen. Das Nazi-Vokabular tickt hin und her, schärfste Satire kippt und wird tragisch. Dieses Doppelte bekommt etwas Vorauseilendes beim Lesen, aufwirbelnd und abstürzend werden die Wirbel der Intensität. Die Satire des Tons kollidiert mit der Tragik der Situation. Bewußt gesetzte Sprachklischees werden zu einer Art Minimalverständigung zwischen den Personen. So wird das Unaussprechliche am Entsetzen auf ganzer Strecke frech mitgeführt wie in einem Schlepptau. Was die Sätze sich sparen, entsteht nach und nach schwelend und unausweichlich im Kopf des Lesers. Derbheit und Zärtlichkeit gehen immerfort durcheinander. Die Satire und die Tragik werden hier ganz anders, man möchte fast sagen typisch individuell. Was es so gar nicht geben kann, das gibt es bei Hilsenrath. 

Herta Müller

 

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